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Psychiatrische Pillen statt Pädagogik

Kritische Anmerkungen zur ADHS-Diagnose und der damit verbundenen Verabreichung von Ritalin®

abgedruckt in: PÄDAGOGISCHE KORRESPONDENZ, Heft 30, Frühjahr 2003, S. 43-53

I
In den Medien sind über die Jahre hinweg die Warnungen vor einem zunehmenden Medikamentenkonsum bei Jugendlichen nicht weniger geworden, um Probleme mit Eltern, Erziehern und Lehrern zum Verschwinden zu bringen. Der Bielefelder Gesundheitswissenschaftler Klaus Hurrelmann hat in einem Zehn-Jahres-Vergleich (1986–1996) unter anderem die Konsumtrends psychoaktiver Medikamente bei Jugendlichen im Alter von 13 und 15 Jahren untersucht. Er stellte bei Kopfschmerzmitteln eine Verdoppelung der Werte innerhalb von zehn Jahren fest, bei den Anregungsmitteln ergab sich sogar eine zehnfache Steigerung innerhalb des Untersuchungszeitraumes.1 Hurrelmann weist darauf hin, dass bei einer dauerhaften Nutzung dieser Substanzen durchaus eine Suchtgefahr bestehe. Wäre diese Gefahr nicht gegeben, könnte sich die Klientel freuen, dass - endlich - medikamentös Schulstress, Versagensängste oder Beziehungsarmut der Garaus gemacht werden kann, kurz: all jene Probleme scheinbar gelöst werden können, die pädagogisch vermeintlich nur schwer in den Griff zu bekommen sind.

Die Tendenz, seelischen Unpässlichkeiten mit psychoaktiven Medikamenten zu begegnen, hat eine ganz neue Dimension erreicht, wenn es um Substanzen geht, die aufgrund ihrer psychotropen Wirkung unter das Betäubungsmittelgesetz fallen. Hier hat seit Mitte 2001 eine heftige Diskussion um das Psychopharmakon Ritalin® eingesetzt, das aufgrund der psychiatrischen ADHS-Diagnose (Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung) verabreicht wird. Es ist das Ziel dieser Arbeit zu untersuchen, ob die Verabreichung von Ritalin® für Eltern und Erzieher wirklich der willkommene Helfer in der Not ist oder ob es sich dabei nur um eine Schein-Lösung des Problems der Hyperaktivität handelt und die wirklichen Ursachen des Problems nur zugedeckt und nicht gelöst werden.

Die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Marion Caspers-Merk, wies in ihrer Pressemitteilung vom 15. August 2001 ausdrücklich auf den schädlichen Missbrauch des Psychopharmakons Ritalin® hin. Diese Erwähnung führte zu einer ganz neuen Diskussion darüber, ob es überhaupt vertretbar ist, das Psychopharmakon in diesen Mengen zu verschreiben. Im Einzelnen nannte Caspers-Merk die folgenden Zahlen: „Seit 1994 hat sich der Verbrauch mehr als verzehnfacht. Allein im Jahr 2000 hat er sich gegenüber dem Vorjahr verdoppelt.“2 Im „arznei-telegramm“ wurden bereits ein Jahr vorher die folgenden Zahlen genannt: „1995: 0,7 Millionen Tabletten, 1999: 31 Millionen Tabletten“3 . Folgt man diesen Zahlen, so wäre dies sogar eine Steigerung um mehr als das Vierzigfache innerhalb von fünf Jahren. Im Vergleich zu den Zahlen von Hurrelmann, die sich auf die Konsumtrends von psychoaktiven Medikamenten beziehen, ergibt sich, dass der Anstieg im Verbrauch der psychotropen Substanz Ritalin® wesentlich deutlicher ausfällt. Wenn man sich das Wirkungspotenzial und die damit verbundenen Gefahren von Ritalin® vor Augen hält, dann müsste eigentlich höchste Vorsicht bei der Verwendung dieses Psychopharmakons geboten sein. Die oben aufgezeigten Konsumtrends deuten jedoch an, dass das Gegenteil der Fall zu sein scheint.

Ritalin® ist lediglich ein Markenname. Der in den Tabletten enthaltene Wirkstoff heißt Methylphenidat. Medikinet® ist ein weiterer Markenname für diesen Wirkstoff, mit dem zunehmend Kinder mit der Diagnose ADHS behandelt werden. Diese so genannte Hyperaktivitätsstörung hat einen bekannten Vorläufer in der Figur des Zappel-Philipps, die von dem Psychiater Heinrich Hoffmann geschaffen und im „Struwwelpeter“ veröffentlicht wurde. 4

II
Nach seinem Studium errichtete Heinrich Hoffmann (1809-1894) im Jahre 1835 in Frankfurt eine Praxis, 1848 saß er als bürgerlicher Liberaler im Frankfurter Vorparlament und von 1851 bis 1888 war er leitender Arzt in der „Anstalt für Irre und Epileptische“. Den „Struwwelpeter“ oder „lustige Geschichten und drollige Bilder für Kinder von 3 bis 6 Jahren“, wie es im Untertitel heißt, verfasste er im Jahre 1847. Zu den zentralen Figuren dieses Kinderbuches gehört der Zappel-Philipp. Er ist unakzeptabel lebhaft und der Vater versucht vergeblich ihn zu kontrollieren. Philipp zappelt weiter, fällt vom Stuhl, greift nach dem Tischtuch und reißt so Brot, Teller und Flasche mit herunter. Vater und Mutter sind verärgert, weil sie nun nichts mehr zu essen haben. Das, was hier beschrieben wird, ist die eine Seite der ADHS, nämlich die Hyperaktivitätsstörung.

Im „Struwwelpeter“ kommt auch die andere Seite der ADHS vor, nämlich die Aufmerksamkeitsstörung. Hier ist es die Figur des Hanns Guck-in-die-Luft5. Hanns interessiert sich für die Wolken und Schwalben und bemerkt aus diesem Grunde einen herannahenden Hund nicht. Schließlich stößt er mit ihm zusammen und fällt hin. Als er seinen Weg fortsetzt und weiterhin die Schwalben interessiert am Himmel beobachtet, beachtet er den Fluss nicht. Er fällt hinein, wird jedoch von zwei Männern mit Stangen gerettet. Hanns steht nun am Ufer, ist „triefend naß“, „es friert ihn“ und er wird von den Fischen ausgelacht.

Der „Struwwelpeter“ kann als komplettes Erziehungskonzept zur Anpassung an gesellschaftliche Normen verstanden werden. Eigene Ideen und Träume, wie beim Hanns Guck-in-die-Luft, sind nicht gefragt. Er soll sich den vermeintlichen Realitäten anpassen, sonst wird er ausgelacht. Wie die damit verbundenen Erziehungsmethoden aussehen, wird besonders bei der Figur des Daumenlutschers Konrad6 deutlich. Konrad wird von der Mutter, bevor sie weggeht, ermahnt, nicht am Daumen zu lutschen. Er macht es dennoch. Prompt erscheint der Schneider und schneidet beide Daumen ab. Konrad ist traurig. Kein Wunder, denn er hat keine Daumen mehr.

In keiner der oben genannten Situationen wird an die Vernunft des Kindes appelliert. Die Situation wird nicht besprochen oder verständlich gemacht. Neugieriges Verhalten wird konsequent abgewertet und eine Anpassung an die Normen der Autoritäten erwartet. Passt das Kind sich nicht an, wird es entweder durch die Konsequenzen des eigenen Handelns (Zappel-Philipp und Hanns Guck-in-die-Luft) oder durch äußere Gewalt überwältigt, wie durch die Figur des Schneiders beim Daumenlutscher Konrad.
Hoffmann hat die Aufklärung über die in seiner klinischen Praxis auffälligen Symptome statt in eine Psychiatrie in Bildergeschichten für Kinder verlegt. Er hat dabei die Verhaltensweisen der Kinder dramatisiert und eine Unterscheidungsmöglichkeit zwischen einem harmlosen empirischen Hanns und der Figur des Bilderbuchs eingeführt, der so gesteigert in den Himmel guckt, dass es ein böses Ende mit ihm nehmen muss. ‚Richtiges Verhalten‘ wird allein im Bilderbuch durch Überwältigung und Gewalt erzwungen, nachdem die Mahnungen der Eltern nicht gewirkt haben. Es ist zu fragen, ob wir inzwischen gelernt haben, auf schwierige Erziehungssituationen vernünftig einzugehen, oder ob die Verabreichung von Psychopharmaka nur eine modernere und subtilere Form der Überwältigung von Kindern ist, wie sie der Psychiater Heinrich Hoffmann im 19. Jahrhundert darstellte.

III
Obwohl der Psychiater Heinrich Hoffmann das ADHS-Syndrom durch seinen „Struwwelpeter“ bereits präzise beschrieb, so schuf er damit noch keine behandlungsfähige Krankheit. Dies besorgten seine US-amerikanischen Kollegen. Aus dem Zappel-Philipp und dem Hanns Guck-in-die-Luft des Jahres 1847 wurde im Jahr 1987 eine Krankheit mit dem Namen ADHD (Attention-Deficit/Hyperactivity Disorder), beschlossen von der APA (American Psychiatric Association), der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung. Diese Krankheit wurde im DSM-III-R, dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen, verankert. Hier werden die Kriterien genannt, nach denen ADHD diagnostiziert wird.
Nun mag es verwundern, dass die APA eine Krankheit ‚beschließen‘ kann. Das Verb ‚beschließen‘ legt die Vermutung nahe, dass es sich hierbei nicht um eine objektiv nachweisbare Krankheit, sondern um einen Willkürakt handelt. Genau dies ist auch der Fall.
Der Medizingeschichtler Edward Shorter weist in seiner „Geschichte der Psychiatrie“ darauf hin, dass in der Psychiatrie nur wenige Krankheitsursachen bekannt seien7. Shorter fährt fort: „Deshalb wird psychische Krankheit auch eher anhand von Symptomen als von Ursachen klassifiziert, was dem Niveau entspricht, auf dem die restliche Medizin sich im 19. Jahrhundert befand.“8 Besonders deutlich wird dieser Sachverhalt im Streit darüber, ob Homosexualität nun eine sexuelle Abnormität ist oder nicht. Noch im DSM-II war Homosexualität aufgeführt. Aufgrund intensiver Lobbyarbeit wurde Homosexualität im DSM-III per „Referendum unter den APA-Mitgliedern“9 von der Liste gestrichen. Eine ähnliche Auseinandersetzung gab es darüber, ob die Vietnam-Veteranen unter einer spezifischen Krankheit litten oder nicht.
Ob eine Auffälligkeit also auf der Liste des DSM landet, hängt nicht von objektiven wissenschaftlichen Kriterien ab, sondern von der Lobbyarbeit der verschiedenen Interessenvertreter, der Politik sowie weiterer Faktoren und letzten Endes von der Abstimmung der APA-Psychiater. Dies gilt auch und insbesondere für ADHD.

Das DSM erschien erstmals im Jahre 1952 und es wurden darin 112 Geistesstörungen beschrieben, im DSM-II (1968) waren es bereits 163, im DSM-III (1980) waren es 224, im DSM-III-R (1987) 253 Geistesstörungen und in der letzten Ausgabe, dem DSM-IV von 1994, waren es 374 Geistesstörungen. Die Anzahl der psychiatrischen Störungen nahm also seit Bestehen des DSM beständig zu. Dass beim Zustandekommen der DSM-Liste unter anderem Lobbyarbeit und Politik eine Rolle spielen, wurde schon erwähnt. Darüber hinaus scheint die jeweilige psychiatrische Schule, die ‚gerade am Ruder ist’, von Bedeutung zu sein. Die ersten beiden DSM-Ausgaben waren vorwiegend psychoanalytisch inspiriert, wohingegen danach die biologische Psychiatrie eindeutig an Einfluss gewann10. Die mit der ADHD-Diagnose verbundene Einnahme des psychotropen Medikaments Ritalin® passt in dieses Gesamtbild. Darüber hinaus tauchen in dem Diagnose-Manual Störungen wie „Koffeinstörung“ oder „Expressive Sprachstörung“- also die Störung des sprachlichen Ausdrucks - auf, die schwer erkennen lassen, dass es sich hierbei um eine Krankheit handeln soll11. Es ist deshalb zu fragen, ob die im DSM genannten Krankheiten Krankheiten im herkömmlichen Sinne sind.

In Deutschland ist das Wort ‚Krankheit‘ ein unbestimmter Rechtsbegriff, der gesetzlich nicht definiert ist. Eine Definition ergibt sich vielmehr allein aus der Rechtssprechung selbst. Hier wird unter Krankheit „ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand, der Behandlungsbedürftigkeit und/oder Arbeitsunfähigkeit zur Folge hat“12 verstanden. „Die Regelwidrigkeit eines Körper- oder Geisteszustandes ist bereits mit der Abweichung von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm gegeben.“13 Es wird zu untersuchen sein, ob die von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung aufgestellten diagnostischen Kriterien überhaupt in der Lage sein können, die geforderte „Regelwidrigkeit eines [...] Geisteszustandes“ hinreichend zu beschreiben.

An dieser Stelle kann angemerkt werden, dass eine im DSM beschriebene Krankheit nicht mit einer Krankheit im herkömmlichen Sinne vergleichbar ist. Diabetes zum Beispiel lässt sich eindeutig beschreiben und damit auch diagnostizieren. Die Ärzte haben ein Einverständnis darüber, was Diabetes ist und wie sie zu behandeln ist. Es gibt nicht unterschiedliche Schulen unter den Ärzten, die Diabetes je nach politischem Standort oder Interessengruppe unterschiedlich erklären und behandeln. Demgegenüber handelt es sich bei den im DSM-IV genannten diagnostischen Kriterien für ADHD lediglich um eine Liste nicht gewünschter Eigenschaften bei Kindern. Autoren wie Thomas Szasz lehnen es sogar ab, den Krankheitsbegriff auf die im DSM-IV genannten psychischen Störungen auszudehnen. Dabei ist anzumerken, dass Szasz als Psychiater eine psychoanalytische Richtung verfolgt und Geisteskrankheit „als ein Fehlurteil der Medizin“14 betrachtet. Sein Hauptwerk „Geisteskrankheit – Ein moderner Mythos?“ unterstreicht diesen Standpunkt.

ADHD – im deutschen Sprachraum spricht man von Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) – wird im DSM-IV auf drei Seiten beschrieben15. Zunächst werden die Symptome genannt, die sich auf Unaufmerksamkeit (Hanns Guck-in-die-Luft) beziehen. Dann folgen die Symptome der Hyperaktivität und Impulsivität (Zappel-Philipp). Da sich die vorliegende Arbeit im Wesentlichen auf die zweite Kategorie bezieht, sollen die dafür aufgestellten Symptome hier vollständig zitiert werden. Sie sind von großer Bedeutung, um zu verstehen, wie diese psychiatrische Störung lanciert wurde.

Die Hyperaktivitätsstörung kann anhand einer Liste von neun Symptomen diagnostiziert werden:

„Hyperaktivität:
a) zappelt häufig mit Händen oder Füßen oder rutscht auf dem Stuhl herum,
b) steht in der Klasse oder in anderen Situationen, in denen Sitzenbleiben erwartet wird, häufig auf,
c) läuft häufig herum oder klettert exzessiv in Situationen, in denen dies unpassend ist (bei Jugendlichen oder Erwachsenen kann dies auf ein subjektives Unruhegefühl beschränkt bleiben),
d) hat häufig Schwierigkeiten, ruhig zu spielen oder sich mit Freizeitaktivitäten ruhig zu beschäftigen,
e) ist häufig „auf Achse“ oder handelt oftmals, als wäre er/sie „getrieben“,
f) redet häufig übermäßig viel;

Impulsivität:
g) platzt häufig mit den Antworten heraus, bevor die Frage zu Ende gestellt ist,
h) kann nur schwer warten, bis er/sie an der Reihe ist,
i) unterbricht und stört andere häufig (platzt z. B. in Gespräche oder in Spiele anderer hinein).“16

Tauchen sechs oder mehr dieser insgesamt neun Symptome in einem Zeitraum von 6 Monaten beständig auf, dann gilt dies als Krankheit mit dem Namen ADHD bzw. ADHS. Diese Symptome müssen „in einem mit dem Entwicklungsstand des Kindes nicht zu vereinbarenden und unangemessenen Ausmaß vorhanden gewesen“17 sein.

Das ist alles. Das ist die diagnostische Grundlage für ADHS. Ohne diese Kriterien gäbe es keine Verschreibung von Ritalin® und anderer Psychopharmaka für so genannte hyperaktive Kinder. Es lohnt sich also, diese Kriterien etwas näher zu betrachten.
Zunächst fällt auf, dass diese Kriterien höchst subjektiv interpretierbar sind. Wie will man den genauen Zeitpunkt festlegen, wann ein Kind „häufig mit Händen oder Füßen zappelt“? Eltern und Lehrer werden im Laufe des diagnostischen Verfahrens aufgefordert, ihre diesbezüglichen Beobachtungen in Fragebogen einzutragen. Ein Verhalten, das für die eine Mutter noch vollkommen akzeptabel ist, kann für eine andere Mutter oder für einen Lehrer schon Anlass zum Tadel geben und einen entsprechenden Eintrag im Fragebogen zur ADHS-Diagnose zur Folge haben. Die Toleranz des Beobachters spielt also bei der Diagnose eine große Rolle. Das Vorhaben, aus diesen subjektiven Beobachtungen eine objektive Krankheit ableiten zu wollen, muss deshalb als äußerst bedenklich angesehen werden.

Die Fähigkeit zur Kommunikation gehört zu den Schlüsselvoraussetzungen zur Teilnahme am sozialen und kulturellen Geschehen. Kontaktfreudige und kommunikationsbereite Menschen haben es in der Regel leichter, im Leben zurechtzukommen. Wie will man hier bestimmen, wann ein Kind „häufig übermäßig viel redet“? Was für den einen Beobachter bereits als ‚krankhaft‘ erscheint, mag für einen anderen als besonders überlebensfähig und als Ausdruck spontaner Lebensfreude gelten.
Ein Kind, das lebenslustig und bewegungsfreudig ist, könnte ohne Probleme die Symptome d) bis i) erfüllen. Damit würde es die geforderten sechs Kriterien erfüllen und könnte mit dem Etikett „ADHS“ versehen werden. Einer Verschreibung von Ritalin® stünde dann nichts mehr im Wege. Eine Mutter, die sich von ihrem Kind ohnehin genervt fühlt, wird eher dazu tendieren, die geforderten Kriterien zu erkennen, weil sie sich eine Verbesserung ihrer Erziehungssituation erhofft. Da bis zum 12. Lebensjahr weitestgehend die Eltern die Medikamentierung ihrer Kinder vornehmen, ergibt sich hier die große Gefahr, dass selbstbewusste, aktive und lebensfreudige Kinder über eine psychotrope Droge an eine gewünschte Familien- oder Schulsituation angepasst werden.

Eine präzise Wissenschaft muss mit präzisen und nachvollziehbaren Begriffen arbeiten. Wie sieht es aber mit der Beschreibung der Symptome für ADHS aus? Die Angabe „häufig“ (Symptome a, b, c, e, f, g, i) ist äußerst ungenau. Was ist genau mit „exzessiv“ (Symptom c) oder „übermäßig“ (Symptom f) gemeint? Diese Begriffe bleiben rein subjektiv, wenn das Vergleichskriterium fehlt. Die Formulierung, ein Kind fühle sich „getrieben“, ist bloße Mutmaßung, da es eine sichere Introspektion voraussetzt, die nach einem komplizierten diagnostischen Instrumentarium verlangt. Die Aktivität eines Kindes als „unpassend“ (Symptom c) zu kennzeichnen, kann nur wertend verstanden werden. Aus alledem lässt sich folgern, dass ungenaue Beobachtungsanweisungen nicht zu einer wissenschaftlich fundierten Diagnose führen können. Damit ist das Instrument selbst unwissenschaftlich und kann nur Artefakte produzieren.

Liest man die Symptome des DSM, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das brave, zurückhaltende und angepasste Kind für die APA-Psychiater Pate gestanden hat. Es bildet den Normalfall, von dem aus das Kranke diagnostiziert wird.
Der Krankheitsbegriff erfordert zudem, dass zumindest eine „Abweichung von der durch das Leitbild des gesunden Menschen geprägten Norm gegeben“ ist. Wie soeben erläutert wurde, ist es höchst schwierig und in großem Maße von subjektiven Faktoren abhängig, eine solche Abweichung zu diagnostizieren. Die von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung entwickelten Kriterien erscheinen somit als wenig geeignet, ADHS eindeutig zu bestimmen. Sie könnten vielmehr dazu dienen, Teile der Bevölkerung als ‚krank‘ zu stigmatisieren und damit potenziell einer psychiatrischen Behandlung auszusetzen.
Im Grunde genommen handelt es sich bei den so genannten diagnostischen Kriterien lediglich um eine Auflistung von in einem bestimmten Milieu unerwünschten Verhaltensweisen, die nichts über die Ursachen von ADHS aussagen. Wie willkürlich diese Kriterien festgelegt wurden, ergibt sich auch aus der Tatsache, dass im DSM-III-R von 1987 noch 14 Kriterien genannt wurden, wobei im DSM IV von 1994 mindestens sechs dieser Symptome ausreichen, um ADHS zu diagnostizieren, wenn sie über einen Zeitraum von mehr als sechs Monaten auftauchten.

Wie ernst diese Kriterien zum Teil in der Praxis genommen werden, mag der Fall der Bremer Kinderärztin Dr. Renate Lüdemann zeigen, die in der Report-Sendung vom 3.9.2001 behauptete, sie könne ADHS innerhalb von drei Minuten diagnostizieren. Dies ist um so schwerwiegender, da auf der Grundlage von zweifelhaften Diagnosen Psychopharmaka mit dem Wirkstoff Methylphenidat verschrieben werden, die eine so massive Einwirkung auf den Menschen haben, dass sie unter das Betäubungsmittelgesetz fallen.

V
Der Wirkstoff Methyphenidat wird in Deutschland unter den Markennamen Ritalin® und Medikinet® verkauft. Ursprünglich hat Ritalin® überhaupt nichts mit ADHS zu tun. Es wurde bereits in den fünfziger Jahren entwickelt und u.a. als Appetitzügler eingesetzt. Ritalin® ist chemisch nicht identisch mit Kokain, es produziert jedoch pharmakologische Effekte, die denen von Kokain ähnlich sind. Auf der Website des U.S. Department of Justice – Drug Enforcement Administration heißt es hierzu: „Methylphenidate, which is manufactuered under the brand name Ritalin®, is a Schedule II stimulant that produces pharmacological effects similar to those of cocaine and amphetamine“.

Im Rahmen dieser Arbeit kann nicht im Einzelnen darauf eingegangen werden, welche Prozesse Ritalin® im Gehirn in Gang setzt. In vielen Publikationen wird derzeit betont, dass die Wirkungen von Ritalin® nur in groben Zügen bekannt sind. Bislang ist geklärt, dass der in ihm enthaltene Wirkstoff Methylphenidat den Transportmechanismus des Neurotransmitters Dopamin blockiert, sofern der Stoff intravenös verabreicht wird. Es ist nicht bekannt, ob das orale Verabreichen des Wirkstoffes ebenfalls zu signifikanten Änderungen des Dopamin-Levels führt. Neurotransmitter sind chemische Botenstoffe, die u.a. für die Signalübertragung im Gehirn zuständig sind.
Die unterschiedliche Wirkung zwischen der intravenösen und oralen Verabreichung des Wirkstoffes hängt u.a. mit der Zeitspanne, die für die Wirkung benötigt wird, zusammen. Während die intravenöse Applikation innerhalb weniger Minuten ihre Wirkung zeigt und zu rauschähnlichen Zuständen führen kann, dauert die Wirkung bei oraler Einnahme ca. eine Stunde. Diese längere Zeitspanne gibt dem Körper die Gelegenheit zu einer langsamen Anpassung18.
Heinrich Kremer, langjähriger ärztlicher Direktor der Drogenfachklinik der Länder Berlin, Bremen, Hamburg, Niedersachsen und Schleswig-Holstein, stellt fest, dass Ritalin® ähnlich wie Kokain wirke19.

Festzuhalten bleibt, dass bis heute noch keine verlässlichen und eindeutigen Aussagen darüber gemacht werden können, was genau Ritalin® im sich entwickelnden Gehirn eines Kindes bewirkt20. Hierauf hat auch das Sozialministerium des Landes Baden-Württemberg in einer Stellungnahme hingewiesen21. Entsprechend vermerkt auch der Hersteller auf dem Beipackzettel: „Es gibt keinen spezifischen Beweis, der die Mechanismen nachweist, wie Ritalin® mentale und verhaltensmäßige Effekte auf Kinder hervorruft, noch gibt es einen überzeugenden Nachweis darüber, wie diese Effekte in Beziehung zum zentralen Nervensystem stehen.“22 Es gibt zu denken, dass ein Medikament wie Ritalin®, dessen Wirkungsweise so wenig geklärt ist, aufgrund einer vagen psychiatrischen Diagnose in einem solchen Ausmaß verschrieben wird, wie dies derzeit in der Bundesrepublik geschieht. Die eingangs erwähnte und von Hurrelmann statistisch erfasste Zunahme des Medikamentenkonsums macht also selbst bei psychotropen Medikamenten nicht Halt.

Die Botschaft, die durch die Verabreichung von Ritalin® vermittelt wird, lautet demnach: Hast du ein seelisches Problem, dann schlucke eine Pille. Die Bedenken verstärken sich noch, wenn man sich vor Augen hält, dass auch die Langzeitfolgen einer Behandlung mit Methylphenidat unbekannt sind. „Bei jungen Ratten scheint das Amphetamin die Ausreifung des dopaminergen Innervationssystems irreversibel zu behindern. Für Menschen könnte der Befund bedeuten, dass die jahrelange Einnahme in einer Zeit, in der sich das Gehirn entwickelt, eine PARKINSON-artige Erkrankung im höheren Lebensalter begünstigt“, heißt es im arznei-telegramm23. Der Göttinger Neurologe Gerald Hüther hat auf die möglichen Langzeitschäden durch das Medikament Ritalin® hingewiesen. Auf der Grundlage seiner Experimente mit Ritalin® kommt er zu folgendem Schluss: „Ich muss daher befürchten, dass wir demnächst immer jüngere Parkinson-Kranke bekommen.“24

V
Unabhängig davon, ob sich die Situation in Familien und Schule verändert hat, ob sich also die Verhaltensauffälligkeiten und Erziehungsprobleme gehäuft haben, stellt sich die Frage, ob es legitim ist, mit psychiatrischen Pillen und der damit verbundenen Gefahr der Psychiatrisierung der Erziehung auf Symptome wie ADHS zu reagieren. Auch wenn viele Pädagogen, die seit mehreren Jahrzehnten im Schuldienst sind und entsprechende Vergleiche ziehen können, von einer Zunahme der Auffälligkeiten sprechen, so ist zu fragen, ob es sinnvoll ist, diese Probleme zu externalisieren und den Psychiater, den Arzt und die Pharmazie auf den Plan zu rufen.

Was von Seiten der Psychiatrie angeboten wird, um die Probleme zu lösen, ist mehr als fragwürdig. Die von der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung im Jahre 1987 aufgestellten Kriterien mögen zu allem Möglichen tauglich sein, nicht aber dazu, eine Krankheit zu diagnostizieren. Die so postulierte ADHS-Symptomatik ist beliebig und fragwürdig und führt dennoch zur Verabreichung einer psychiatrischen Droge – meist Ritalin®, die ähnliche Effekte wie Kokain produziert, deren Langzeitwirkungen unerforscht sind, und all das, obwohl Ritalin® bereits seit den 50er Jahren auf dem Markt ist. Heinrich Kremer schreibt hierzu treffend: „In der therapeutischen Praxis erweist sich jedoch [...] die Ritalin-Dauertherapie als schwerwiegender Eingriff in die Persönlichkeitsentwicklung und körperliche Reifung im Kindes- und Jugendalter mit sehr riskanten Langzeitfolgen.“25
Erwachsene können sich gegen eine Behandlung mit Psychopharmaka erfolgreich zur Wehr setzen. Für Kinder, die mit einem Psychopharmakon behandelt werden, ist dies fast unmöglich. Diese Überwältigung, die das Ziel verfolgt, Kinder an eine als ideal angesehene Norm anzupassen, unterscheidet sich natürlich von physischer Gewalt. Jedoch muss angemerkt werden, dass es sich hier um einen schwerwiegenden Eingriff in das Seelenleben eines Kindes handelt.

Die Pädagogik muss sich fragen lassen, was sie dazu beigetragen hat, dass diese Situation entstehen konnte. Lebhafte Kinder wurden immer als solche von ihrer Umwelt wahrgenommen, aber deswegen nicht schon angstbesetzt und bewehrt behandelt. Es ist die Aufgabe der Pädagogik, darauf zu reagieren und geeignete Strategien zu entwickeln, wie auch diese Kinder sinnvoll in das Unterrichtsgeschehen einbezogen werden können. Zuzusehen, wie aus dem Zappel-Philipp ein ADHSler wird und zu akzeptieren, dass die damit verbundenen Probleme externalisiert und in die Hände von Psychiatern gelegt werden, zeugt allein vom Defizit der Pädagogik selbst. Sie delegiert das, was zu ihren genuinen Aufgaben zählt, nämlich die Unterrichtung und Erziehung von Jugendlichen, an eine andere Berufsgruppe - die der Ärzte und Psychiater - und stellt sich durch die Diagnose einer Krankheit als unzuständig dar. Die Güte, Kinder und Jugendliche in ihrem je eigenen Verhalten anzunehmen und darauf zu vertrauen, dass sich bestimmte Verhaltensweisen im Laufe der Zeit ‚geben’ werden, scheint in dem Maße zu schwinden, wie das Bedürfnis nach einem identifizierenden Denken wächst, mit dem das Beunruhigende objektiviert werden kann: Der Zappel-Philipp ist eben etwas grundlegend anderes als das ADHS nach DSM-IV. Eltern, denen die Lehrer mitteilen, dass ihre durch die Modekrankheit ADHS geschärfte Beobachtung ergeben hat, das Kind könne wohl ADHS haben, erfahren, dass sie etwas tun müssen: die Pille besorgen! Wenn sie das nicht tun, dann lassen sie mutwillig zu, dass das Kind weiter stört und die Konsequenzen zu tragen hat für das Stören.
Nicht wenige Eltern werden erleichtert sein, wenn sie erfahren, dass ADHS eine Krankheit sei. Für eine Krankheit kann man in der Regel nichts, nicht als krankes Kind, nicht als Mutter oder Vater. Lehrer sind froh darüber, mit der Einsicht in das Phänomen ADHS nun besser zu verstehen, was der Zappel-Philipp ist. Mit diesem verbanden sie noch eine Aufforderung zur Erziehung, mit jener Krankheit die Sicherheit, dass andere helfen können und müssen. Der Zeitgeist, der mächtig sich in den Journalen artikuliert und sich dort selbst erschafft, hat jedes Jahr Bedarf nach einer neuen Krankheit der und an der Zivilisation. Da hilft die „amerikanische Gesellschaft zur Beobachtung von ... “ aus. Die Wissenschaft hat festgestellt, dass ..., der Spiegel berichtet über ..., die Betroffenen identifizieren massenhaft, was der Spiegel berichtet.

Mit ADHS wird ein Problem beschrieben, das sich die Pädagogik zumindest teilweise selbst geschaffen hat. Denn die Forderung, still und aufmerksam zu sein, stammt aus der Institution Schule selbst. Es ist verständlich, dass von Natur aus lebhafte Kinder gegen diese Form des Unterrichts protestieren. Die Pädagogik bleibt aufgefordert, selbst Lösungen auszuarbeiten. Stellt sie sich der Aufgabe nicht, dann scheinen ADHS, Ritalin® und eine Psychiatrisierung der Pädagogik genau diese Nachfrage von genervten Lehrern und beunruhigten Eltern bedienen zu können.


1http://www.archido.de/volltext-publikationen/hurrelmann_arznei_einstiegs.htm [zuletzt abgerufen am: 3.1.2003].

2Caspers-Merk, Pressemitteilung, Nr. 12 vom 15. August 2001.

3 arznei-telegramm, 8/2000, 31. Jg., 4. August 2000.

4 Vgl., Hoffmann, Heinrich: Der Struwwelpeter, Bindlach 2001, S. 17-19.

5 Vgl., ebd., S. 21-23.

6 Vgl., ebd., S. 15f.

7 Vgl., Shorter, Edward: Geschichte der Psychiatrie, Berlin 1999, S. 442.

8 Ebd., S. 442.

9 Ebd., S. 453.

10 Vgl., ebd. S. 449f.

11 Vgl., Saß, Henning u.a.: Diagnostische Kriterien des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen DSM-IV, Göttingen 1998, S. 119 und 339.

12 Schreiben der Kassenärztlichen Vereinigung Niedersachsen – Bezirksstelle Oldenburg vom 15. April 2002 an den Verfasser.

13 Ebd.

14 Shorter, Edward: ebd., S. 410.

15 Vgl., Saß, Henning u.a., ebd., S. 62-64.

16 Ebd., S. 63.

17 Ebd., S. 63.

18 Alle Informationen aus: Volkow, Nora D. et al.: „Therapeutic Doses Of Oral Methylphenidate Significantly Increase Extracellular Dopamine in the Human Brain“, in: The Journal of Neuroscience, Vol. 21 RC121 (1-5), 2001 [zuletzt abgerufen am 04.02.03] und „Neue Forschungsergebnisse erweitern Verständnis über Wirkung von Ritalin“, http://www.psychohelp.at/html4/psychologie_nachrichten/hyperakt. [zuletzt abgerufen am: 4.02.03]

19 Kremer, Heinrich: „Ritalin – Tatort Gehirn“, in: raum&zeit, Nr. 115/2002, S. 5ff., S. 11.

20 Vgl., „Das Zappelphilipp-Syndrom“, in: DER SPIEGEL, Nr. 29/15.7.2002, S. 127.

21 Vgl. Stellungnahme des Sozialministeriums des Landes Baden-Württemberg vom 11.1.2002 (Drucksache 13/619).

22 Zitiert nach: Hüther, Gerald und Helmut Bonney: Neues vom Zappelphilipp, Düsseldorf 2002, S. 73f.

23 arznei-telegramm 2002, 33. Jg., Nr. 1, S. 16.

24 DER SPIEGEL, Nr. 11/2002, S. 222.

25 Kremer, Heinrich: „Ritalin – Tatort Gehirn“, ebd., S. 16.

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